Deutschland und die Rehabilitierung der Russlanddeutschen:
Neues Herangehen gefragt
von Hugo Wormsbecher
Die Wahlergebnisse in Deutschland, die Bildung der großen Koalition, die Verstärkung der ökonomischen und politischen Rolle der Deutschen aus Russland berechtigen, eine Änderung der politischen Haltung ihnen gegenüber - sowohl in Deutschland als auch in Russland - zu erhoffen. Deshalb ist es wichtig, unsere Ziele und Aufgaben deutlich zu bestimmen.
Das Hauptziel für alle Russlanddeutschen, unabhängig von ihrem heutigen Wohnort, bleibt nach wie vor die Rehabilitierung des Volkes. Darunter verstehen wir die Verabschiedung politischer Beschlüsse, die die Wiederherstellung der gleichen Rechte und Möglichkeiten der Russlanddeutschen gegenüber anderen Völkern Russlands, sowie den Erhalt ihrer nationalen Identität und ihrer Zukunft als Volk gewährleisten. Die Rehabilitierung bleibt das Hauptziel auch deshalb, weil von ihr das historische Befinden des Volkes und seine Befreiung von der 72-jährigen unerträglichen moralischen Last der unbegründeten Beschuldigungen und Repressalien abhängen.
Unverändert bleibt auch der Inhalt der Rehabilitierung: kompakte Ansiedlung (für die, die es wünschen); eigene Wirtschaftsbasis (von "der Hilfe" von außen kann das Volk nicht leben); nationale Selbstverwaltung und Vertretung in den föderalen Machtstrukturen (wie bei anderen Völkern Russlands). Noch vor 20 Jahren wurde das alles im Gesetz der Russischen Föderation über die Rehabilitierung der repressierten Völker (1991) und im Deutsch-Russischen Protokoll über die Zusammenarbeit zur Wiederherstellung der Staatlichkeit der Russlanddeutschen (1992) klar festgelegt. Die Verantwortung für deren Ausführung fällt beiden Seiten zu. Unter Berücksichtigung der neuen Realien können sich heute die territoriale Anbindung und die Form der Ausführung des Protokolls unterscheiden, jedoch das Wichtigste muss darin unveränderlich bleiben: die Rehabilitierung des Volkes.
In den vergangenen 20 Jahren sind weder das Gesetz, noch das Protokoll erfüllt. Im Gegenteil, es geschah eine schleichende Auswechslung des Rehabilitierungsprozesses durch die „föderalen Zielprogramme“ in Russland und die "Hilfe für Russland zugunsten der Russlanddeutschen" seitens Deutschlands. Diese Projekte, ihr Niveau, Einbezug „der Zielgruppe“ und ihre Ergebnisse entsprechen weder den Maßstäben der Aufgabe, noch dem Ziel des Gesetzes und des Protokolls. Im Wesentlichen war es damit verbunden, dass die Situation in Russland nach dem Zerfall der UdSSR es nicht zuließ, so vorzugehen, wie es geplant war, und die russische Seite kam allmählich zur Absicht, die Frage der Rehabilitierung überhaupt aufzugeben.
Dazu wurden verschleiernd-ablenkende "Zielprogramme" übernommen (ein ist in 10 Jahren auf 4 % erfüllt, das zweite enthielt überhaupt keine großen Ziele) und die Bewegung der Russlanddeutschen mit ihrer Forderung der Rehabilitierung wurde (mit Hilfe der administrativen Ressourcen und des Budgetfonds) gegen kleine Vertragsstrukturen ausgewechselt. Das ermöglichte auch auf politischer Ebene (deutsch-russische Regierungskommission, Kontakte mit den Machtstrukturen) die Fragen der Rehabilitierung durch "Projekte" und der zugehörigen Allokation auszuwechseln. Des Weiteren fand mit Hilfe derselben administrativen Ressourcen und Budgetfonds (beider Seiten) von den Vertragsstrukturen ein Raider-Eingriff in die Bewegung der Russlanddeutschen statt. Mit groben Gesetzverstößen wurde der vollständig von den Verteilern des Budgetfonds verwaltete "als Deutscher arbeitende" Auftragnehmer H. Martens zum Präsidenten der Föderalen National-Kulturellen Autonomie der Russlanddeutschen gemacht. Zurzeit ist ihm die ganze Projektarbeit, einschließlich der von der deutschen Seite finanzierten Projektarbeit, preisgegeben worden. Dabei werden "Projekte" immer aufwendiger und immer mehr den Zielen der Rehabilitierung, den Aufgaben der Unterstützung der nationalen und kulturellen Identität entfremdet.
Somit wurde nicht nur das russische, sondern auch das deutsche Geld, das für die Projekte "zugunsten der Russlanddeutschen" bestimmt ist, immer mehr gegen die Interessen der Russlanddeutschen verwendet: für die Zerstörung ihrer nationalen Bewegung; in merkantilen Interessen eines engen Kreises von Menschen verschiedener Nationalitäten, die für die Umsetzung der "Projekte" herangezogen worden sind; für die Bildung von kontinuierlich gesteuerten Gruppen der sogenannten „Selbstorganisation“ gegen die Rehabilitierung. In diesen Prozess wurden seitens Deutschlands (in vieler Hinsicht für die Erfüllung derselben Funktionen) auch Gruppen, Personen aus den Strukturen der Deutschen aus Russland in Deutschland (hauptsächlich aus der früheren Landsmannschaft) herangezogen.
Solche Selektion von beiden Seiten „der Vertreter der Russlanddeutschen“ nach ihren rein kommerziellen Interessen ließ immer mehr die Frage über die Rehabilitierung zu betäuben und zu unterdrücken. Zumal die Auftragnehmer, die auf dem Problem der Russlanddeutschen offen parasitieren, gut verstehen, dass die Rehabilitierung ihre anfallende Futterkrippe entziehen kann (denn nach der Rehabilitierung wird das Volk ja selbst bestimmen, wer und was "zu seinen Gunsten" machen soll). Mangels der Transparenz dieser Arbeit, der Kontrolle mindestens von den Organisationen der Russlanddeutschen an der Mittelverwertung und der Effektivität der "Projekte", entstand eine einfach unerträgliche Situation. Es sind dringende und grundsätzliche Veränderungen erforderlich.
Was ist von der deutschen Seite ersichtlich notwendig?
1. Als die Seite, die das Protokoll von 1992 unterschrieb (dies bedeutet, - noch einmal! - dass sie auch die Verantwortung für seine Umsetzung trägt), - die Zusammenarbeit mit Russland vom Wege der Entfernung von der Realisierung des Protokolls, zu seiner schnellsten Ausführung zurückzubringen (was für das heutige Russland vollkommen möglich ist). Dafür darf man in erster Linie die vom russischen Teil der Regierungskommission vorgeschlagene aufdringliche „Aktualisierung des Protokolls“ in Form von Aufhebung der Frage über die Rehabilitierung der Russlanddeutschen überhaupt nicht zulassen; diese Aktualisierung aber durch Einleitung von Maßnahmen zur Umsetzung des Protokolls und der Rehabilitierung durchführen - in heutigen Bedingungen unter Berücksichtigung der Vorschläge, die von den Russlanddeutschen selbst erarbeitet sind (s.u.).
2. In der Regierungskommission, die seinerzeit für die Umsetzung des Protokolls geschaffen wurde (d.h. zur Rehabilitierung der Russlanddeutschen), die beidseitige Mitwirkung derjenigen Russlanddeutschen zu gewährleisten, die für die Rehabilitierung sind, und nicht derjenigen, die auf dem Problem der Rehabilitierung entgegenwirkend parasitieren.
3. Die heutzutage geltenden Formen und Mechanismen der deutschen Hilfeleistung unter Einbeziehung der Organisationen, der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland zu analysieren und revidieren, die Allokation und die Effektivität ihrer Nutzung zu prüfen. Die Teilnahme an der Allokation, Auswahl und Durchführung der Projekte der Vertreter derjenigen Russlanddeutschen ermöglichen, für die die Hilfe bestimmt ist, und nicht der bestimmten Vertragsstrukturen.
Über die Rehabilitierung der Russlanddeutschen heute
Gewöhnlich verknüpfte man früher diese Frage nur mit der Wiederherstellung der Autonomen Republik der Wolgadeutschen. Aber sie lässt Varianten zu, denn das Wichtigste in ihr sind die Bedingungen, die dem Volk eine Zukunft sichern (kompakte Ansiedlung, Wirtschaftsbasis für die Lösung der sozialen und national-kulturellen Aufgaben mit eigenen Kräften, gleiche Rechte und Möglichkeiten mit anderen Völkern). Diese Bedingungen können nicht unbedingt auf dem Gebiet der ehemaligen Wolgarepublik geschaffen sein werden. Der Vorschlag ist, heute in neuem Russland auf neue Art und Weise an die Rehabilitierung heranzugehen. Und zwar, sie als ein Wirtschaftsprojekt zu lösen. Dazu:
ein Paket von aktuellen wirtschaftlichen Aufgaben für das Land (oder für eine konkrete Region), einschließlich in der Landwirtschaft, bilden;
einen Wettbewerb unter den Föderationskreisen zur optimalen territorialen Anpassung des Projektes durchführen;
für die Projektdurchführung hauptsächlich Russlanddeutschen einbeziehen.
Im Verlauf solcher Projektdurchführung werden die notwendigen Grundbedingungen geschaffen sein. Es bleibt nur der neuen territorial-wirtschaftlichen Gründung einen entsprechenden Status zu geben.
Das Projekt ist für das Land und für eine konkrete Region wirtschaftlich und demografisch von Vorteil. Es wird auch keine nationale Konflikte hervorrufen, einschließlich weil die Russlanddeutsche viele gemischte Ehen haben. Es wird auch keine Ausgaben für die Integration in die russische Gesellschaft erfordern (zum Unterschied zur heutigen Arbeitsmigration aus Mittelasien), da die Russlanddeutschen schon in der 12. Generation in Russland leben, russische Bildung haben und Russisch für sie die zweite Muttersprache ist.
Das Projekt kann ein Beispiel der neuen Herangehensweise in Russland zur Lösung der nationalen Frage werden, entsprechend dem, „dass sich jeder Mensch, jedes Volk in seinem Land zu Hause fühlt" (W. Putin). Zu seiner Realisierung kann man das ausländische Business, unter anderem das deutsche, breit einbeziehen und dadurch im Land ein wirksames „Versuchsgelände“ für die Anpassung der modernen Technologien und ihrer schnellen Einführung auch in anderen Regionen schaffen. Das Projekt kann auch kaum ernste Gegner haben: alles hängt hier vom politischen Willen beider Seiten ab. Wozu die Initiative mindestens einer Seite, mindestens im Rahmen der Regierungskommission, gefragt ist.
25.12.2013